Wer älter wird, hat noch viel vor.
Oder, um es mit dem Fazit einer Studie mehrerer Berliner Forschungseinrichtungen zu sagen:
„Das Alter wird jünger“.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit verschiebt sich die Lebenskurve und damit die Leistungs- und Lernfähigkeit in ein wesentlich höheres Lebensalter: Etliche von uns werden künftig locker Neunzig und älter. Wir haben mehr Jahre im Leben und mehr Leben in diesen Jahren, das aktive Erwachsenenalter erweitert sich um mindestens 30 Jahre. Das Leben in allen Phasen genießen zu sollen, kann möglicherweise ziemlich anstrengend werden.
„Wir müssen in den nächsten 30 Jahren ganz neu lernen zu altern oder jeder Einzelne der Gesellschaft wird finanziell, sozial und seelisch bestraft“, hat Frank Schirrmacher, bis zu seinem Tod 2014 mit Mitte Fünfzig einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in seinem Buch Das Methusalem-Komplott geschrieben.〈1〉
Ich empfinde das hohe Alter nicht als einen Lebensabschnitt zunehmender Trostlosigkeit, den man ertragen und so gut wie möglich überstehen muss, sondern als eine Zeit der Muße und Freiheit, der Freiheit von künstlichen Zwängen früherer Tage, der Freiheit, alles zu erkunden, wonach mir der Sinn steht, und die Gedanken und Gefühle eines ganzen Lebens zusammenzufügen.
Oliver Sacks
Das Beste kommt zum Schluss
Zu diesem Lernprozess gehört einiges an Wissen, beispielsweise über die Zusammenhänge der Genetik, Epigenetik (Steuerung von Genen im Erbgut), Psychologie, Philosophie und Autophagie. Letzteres meint lebensnotwendige Prozesse in menschlichen Zellen, die beschädigte und schädliche Proteine aus dem Verkehr ziehen, zerlegen und zu Zellnahrung recyclen. Diese permanente Müllabfuhr spielt eine entscheidende Rolle für die Zellalterung und damit für das Altern ganz allgemein. Für diese Erkenntnisse hat der japanische Mediziner Ohsumi Yoshinori im Oktober 2o16 den Nobelpreis erhalten.
Nennenswert beeinflussen lassen sich die Alterungsphänomene durch die Lebensführung. Abhängig von soziokulturellen Faktoren wie Bildung und körperliche Fitness, und daran gekoppelte höhere Selbstständigkeit im Alter, scheint dies inzwischen recht gut zu gelingen. Im Rahmen der Berliner Altersstudie II (BASE-II) und der Berliner Altersstudie (BASE) aus den 1990er-Jahren haben die Studienautoren die Daten von 7o8 über 6o-jährigen Berlinern (BASE II) mit den Daten aus der Vorgängerstudie (BASE) verglichen.〈2〉
Demnach sind die heute 75-Jährigen geistig deutlich fitter als die 75-Jährigen vor 20 Jahren. Zugleich geht es ihnen ingesamt besser und sie sind zufriedener mit ihrem Leben.
„Die Zugewinne, die wir an kognitiver Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden in Berlin gemessen haben, sind beträchtlich und von großer Bedeutung für die Lebensqualität im Alter,“ kommentiert Prof. Dr. Ulman Lindenberger, Direktor am Forschungsbereich Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB).
Gleichwohl kann der Weg dorthin steinig sein. Manche Frau erlebt schon die Mitte ihres Lebens als Strafe: Weil sie seelische und körperliche Veränderungen an sich feststellt, die sie an ihrer Kraft zweifeln lassen. Weil sie die Eltern oder den Partner beim Sterben begleitet und das „Leben danach“ so weit weg erscheint. Weil sie fürchtet, dem Bild der heutigen Generation 50plus nicht zu entsprechen. Oder weil sie zu wenig über den aktuellen Stand der Hormontherapien weiß, um sich mit Hitzewellen und Stimmungsschwankungen selbstbestimmt in den Glaubenskrieg der Hormongegner und Befürworter zu begeben. Und all das in einer Gesellschaft, in der kaum jemand ein gesundes Verhältnis zum eigenen Körper hat.
Die meisten Fehler haben wir hoffentlich hinter uns. Wir denken, handeln und fühlen anders. Wir nehmen von vielem und von vielen Abschied, gleichzeitig formieren wir uns und das Leben neu.
Betty Friedan
Aktive Bewältigungsstrategien, weniger Stress
Für andere Frauen ist der mit diesen Jahren verbundene Begriff der Wechseljahre nicht mehr als ein entsetzliches Wort und eines der meist strapazierten medizinischen Themen. Ihre Argumente: Die Wechseljahre sind keine Krankheit und niemand sollte sie dazu machen – selbst wenn die tiefgreifenden Veränderungen des gesamten Hormonsystems für mehr oder minder massive Probleme sorgen kann. Diese braucht keine Frau wie einen Schicksalsschlag hinzunehmen, keine Frau muss da durch wie durch ein Gewitter. Zumal dieses ungemütliche Wetter ziemlich lang anhalten kann: Hitzewellen persistieren bis ins hohe Alter.
„Es liegen noch viele Jahrzehnte vor uns, in denen wir nicht passiv ein vorherbestimmtes Programm des Alters durchlaufen müssen, sondern – innerhalb gewisser Grenzen – bewusst unsere Zukunft durch unser Verhalten und unsere Entscheidungen gestalten können,“ so die amerikanische Publizistin Betty Friedan in Mythos Alter.〈3〉
„Ganz sicher hilft uns dabei, dass wir bereits auf eine Lebenshälfte zurückblicken können. Die meisten Fehler haben wir hoffentlich hinter uns. Wir denken, handeln und fühlen anders. Wir nehmen von vielem und von vielen Abschied, gleichzeitig formieren wir uns und das Leben neu.“ Gründen „noch mal“ oder „jetzt endlich“ eine Firma, schaffen Arbeitsplätze, engagieren uns sozial oder politisch oderoderoder. Bislang scheint sich zu bestätigen, was wir alle glauben und was immer betont wird: Es ist niemals zu spät, etwas Neues zu beginnen.
Das große Plus für die Arbeitswelt: Eben aufgrund langjähriger Erfahrungen verfügen über Fünfzigjährige über Fähigkeiten, die Jüngeren fehlen. „Ältere haben sich im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit ein großes Repertoire an möglichen Verhaltensweisen zum Umgang mit Problemen angeeignet, auf das sie bei Bedarf flexibel zurückgreifen können. Gleichzeitig hilft die geringere Beanspruchung dabei, auch zukünftig aktiver mit Stressoren umzugehen – es entsteht so ein sich selbst verstärkender Kreislauf,“ fasst Prof. Dr. Guido Hertel, Organisations- und Wirtschaftspsychologe an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, das Ergebnis einer Online-Befragung zusammen.〈4〉
Hertel und Kollegen haben 634 Berufstätige zwischen 16 und 65 Jahren zweimal im Abstand von acht Monaten nach ihrer Beanspruchung bei der Arbeit und zu ihren Bewältigungsstrategien bei der Lösung von beruflichen Problemen befragt.
Die Frage, die jetzt jeder Entscheidung vorausgehen kann, lautet: Wie fühlt es sich an?
Der Erfolg eines Lebens misst sich nicht nur in Geld
„Anders ausgedrückt, ein Heer von 60- und 70-Jährigen, die sich in ihrer grundlegenden Leistungsfähigkeit nur wenig von 50-Jährigen unterscheiden, vermitteln zwar ein neues hoffnungsvolles Bild des Alterns. Ihnen steht aber eine wachsende Gruppe von Hochbetagten gegenüber, die die Widrig- oder Grausamkeiten des Alterns erleiden. Wer selbst Angehörige zu versorgen hat, wird wissen, dass ich nicht übertreibe.“ So die Worte von Prof. Dr. Peter Gruss, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft bis 2o14, anlässlich einer Festversammlung.〈5〉 Nein, Herr Gruss übertreibt nicht.
Und dennoch, schauen Sie sich um: Die Welt wimmelt nur so von schönen Menschen jenseits der Fünfzig. Nie hatten sie mehr Ausstrahlung, nie waren sie gelassener und entspannter, nie fühlten sie sich stärker, authentischer, attraktiver – nicht zuletzt gerade wegen schmerzhafter Erfahrungen. Erschütterungen, die sie gelehrt haben, dass sich der Erfolg eines Lebens nicht nur in Geld messen lässt. Wer hat gesagt, dass Leben einfach sei?
Eigentlich sind die Wechseljahre kein Thema mehr. Das eigentliche Thema ist Zukunft des Alterns mit einer Grundhaltung zum Leben, die allen Klischees kraftvoll entgegentritt und damit einzigartige Räume für Erfahrungen und Begegnungen eröffnet.
„Vermeintlich einfache Rezepte funktionieren im Einzelfall nur selten oder gar nicht. Oft geht es um Entscheidungen, Wünsche und Verhaltensweisen, die sich nicht in einfache Formeln packen lassen,“ sagt der Psychogerontologe Prof. Dr. Frieder Lang, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 〈6〉
„Reflexion der Restbiographie“ nennt Prof. Dr. Rolf Arnold, Pädagogikprofessor an der TU Kaiserslautern, einen idealerweise bewussten Umgang mit den schwindenden Optionen. Das aktive Finden neuer Standpunkte kann jetzt vor jeder Entscheidung durch die Frage ausgelöst werden: „Wie fühlt es sich an?“ Erweitern lässt sie sich um die „Drei Siebe des Sokrates“ – um die Frage nach der Wahrheit (Ist es wahr?), der Güte (Ist es gut?), der Notwendigkeit (Ist es notwendig?). Wenn keine Antwort positiv ausfällt, braucht man sich – und andere – nicht weiter zu belasten.
Im weiteren Sinne ist jede der Fragen eng mit den Gedanken des 2o15 an Krebs verstorbenen Neurologen und Beststellerautors Oliver Sacks („Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“) verwoben: „… stelle ich fest, dass meine Gedanken sich immer weniger mit den spirituellen Dingen beschäftigen, sondern zunehmend mit der Frage, was es heißt, ein gutes und erstrebenswertes Leben zu führen – und seinen inneren Frieden zu finden.“〈7〉
Quellen
1 Schirrmacher, Frank: Das Methusalem-Komplott. Blessing 2oo4
2 Gerstorf D et al: Secular changes in late-life cognition and well-being: Towards a long bright future with a short brisk ending? Psychology and Aging, März 2o15. pdf zum Download
3 Friedan, Betty: Mythos Alter. Rowohlt 1995
4 Hertel G et al: Are older workers more active copers? Longitudinal effects of age‐ contingent coping on strain at work. Journal of Organizational Behavior, Februar 2o15. DOI: 10.1002/job.1995
5 Gruss, Peter: Die Zukunft des Alterns. Ansprache auf der Festversammlung anlässlich der 56. Ordentlichen Hauptversammlung der mpg, 2oo5
6 Lang, Frieder R: „Niemand ist zu alt für ein gutes Leben“, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 2o16
7 Sacks, Oliver: Dankbarkeit. Rowohlt 2o15
Klahre, Andrea S: Wechseljahre – ein Stück von mir. Germa Press 1994