Woran auch immer wir erkranken: Die bestmögliche Therapie besteht in einem pluralistischen – bestenfalls salutogenetischen – Ansatz, der ganzheitliche Behandlungsverfahren integriert. In diesem Sinne ergänzt die Integrative Medizin, dem Wortsinn entsprechend, konventionelle medizinische Therapien, sie ersetzt sie nicht. Seriöse Integrative Medizin ist ein Bereich der wissenschaftlichen Medizin, Voraussetzung für die Integration sind Erkenntnisse, die eine Effektivität belegen.
„Ich denke, dass die Integrative Medizin das beherrschende Thema der nächsten zwanzig Jahre sein wird,“ hat Dr. Thomas Breitkreuz, Leitender Arzt des Paracelsus-Krankenhauses Bad Liebenzell-Unterlengenhardt, vor einigen Jahren gesagt und damit gemeint: Beim integrativen Ansatz werde im Gegensatz zur alternativen Medizin versucht, eine umfassende Versorgung anzubieten und nicht die Behandlungsmöglichkeiten getrennt voneinander durchzuführen. „Es können und sollten konventionelle schulmedizinische Aspekte ebenso einfließen wie anthroposophische oder andere ganzheitliche Verfahren – als sinnvolles Konzept aus einem Guss.“
Mit seinem Blick in die Zukunft setzt Prof. Dr. Claus Fischer, Bayreuth, Vorsitzender des Arbeitskreises Prävention, Umwelt- und Komplementärmedizin in der Deutschen Gesellschaft für Urologie e.V. (DGU), auf weitere Forschungen.
„Wer seine Methoden oder Präparate nicht der wissenschaftlichen Diskussion stellt, nicht die Gelegenheit gibt, sie nachzuvollziehen, zu überprüfen und eigene Schlüsse zu ermöglichen, der hat Gründe dafür. Wer so vorgeht und sich konventionellen medizinischen Anforderungen versperrt, disqualifiziert sich als Gesundheitsanbieter selbst,“ sagte Fischer 2o1o auf dem 62. DGU-Kongress in Düsseldorf, und zog damit eine Grenze bei der wissenschaftlichen Nachvollziehbarkeit zwischen der Komplementärmedizin und der Grauzone diverser Heilpraktiken.
Ich denke, dass die Integrative Medizin
das beherrschende Thema
der nächsten zwanzig Jahre sein wird
Thomas Breitkreuz
Integrative Onkologie
Breitkreuz und Fischer, beide Fachärzte mit Schwerpunkt Onkologie, haben in ihren Statements jeweils besonders an die Krebstherapien gedacht. Sie hielten es für notwendig, alle vielversprechenden krebstherapeutischen Ansätze vorbehaltlos zu betrachten und kritisch zu prüfen:
„Während an den meisten Krebskliniken abstrakt anhand von Leitlinien festgelegt wird, wie bei der konventionellen Therapie je nach Stadium und Tumorart vorzugehen ist, sieht eine ganzheitliche Therapieempfehlung weitere Aspekte vor … Zudem kennen wir im Idealfall den Patienten und seine individuelle therapeutische Situation und wissen, welche Art der Therapie er möchte oder nicht und aus welchen Gründen welche Behandlung aufgrund seiner körperlichen und seelischen Verfassung in Frage kommt. Davon profitiert er sowohl physisch als auch psychisch,“ so Breitkreuz.
„Letztlich ist es unerheblich, ob eine Therapie aus der Komplementär- oder Schulmedizin kommt, solange sie dem Patienten hilft,“ so Fischer.
Besondere Bedürfnisse nach Zuwendung und Betreuung
Wie ein umfassendes Therapiekonzept für Krebspatienten aussehen und funktionieren kann, ist Gegenstand zahlreicher Forschungsprojekte von der Mind Body Medizin über die Psychoonkologie bis zur Palliativmedizin. Denn auch die Welt derer, die ihren Krebs überleben, ist vielfach geprägt von Angst und Depression.[1]
Der potenzielle Preis für das Überleben ist eine lange Liste von Spätfolgen, die ebenso vielfältig sind wie die Tumorentitäten und deren Therapien; sie reicht von chronischer Fatigue und geschwächter Immunabwehr über Lymphödeme, neuronale Schädigungen, kognitive und affektive Störungen bis zu schlimmstenfalls einem Zweitmalignom bzw. zu Metastasen.
Die besonderen Bedürfnisse von Tumorpatienten nach Zuwendung und ganzheitlicher Betreuung werden in aller Regel bislang nicht erfüllt. Dabei ist beides im Rahmen der Rehabilitationsphase für Krebspatienten und deren Angehörige ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zurück in ein normales Leben.
„Wir haben in Deutschland eine überwiegende Aufgabenteilung zwischen Akut- und Rehamedizin,“ hat mir Prof. Dr. Joachim Weis, Leiter der Psychosozialen Abteilung der Klinik für Tumorbiologie an der Universität Freiburg, vor einiger Zeit gesagt. „Reha-Onkologen sind zumeist gut psychosozial geschult, aber für die thematisierten Probleme wie Ängste und Depression braucht es Experten. Wir haben vor allem psychosoziale Krebsberatungsstellen, die nicht flächendeckend aufgestellt sind. Psychosoziale Nachsorge ist unterrepräsentiert.“
Um hier eine adäquate Entwicklung voranzutreiben, sind laut Weis Programme nötig, die psychosoziale Probleme der Langzeitüberlebenden erkennen und valide erfassen, „damit wir angemessene sowie bedarfsgerechte Interventionskonzepte anbieten können.“
In jeder Hinsicht besser
Integrated Depression Care bzw. Depression Care for People with Cancer (DCPC) steht im angelsächsischen Sprachraum für ein solches Konzept. Es bietet eine umfassende Versorgung von Tumorpatienten mit einer Depression an – durch ein Team von Psychiatern, speziell ausgebildeten Krankenschwestern (Cancer Nurses) und entsprechend fortgebildeten Hausärzten. Leider mangelt es an der Umsetzung.
Deshalb haben sich Ende vergangenen Jahres die Autoren der mehrteiligen britischen Studie SMaRT oncology (Symptom Management Research Trials) mit Daten von insgesamt 21.151 Patienten dafür ausgesprochen, dass an dieser Situation dringend etwas geändert werden sollte.
Den Ergebnissen der in The Lancet, The Lancet Oncology und The Lancet Psychiatry veröffentlichten Arbeiten zufolge ging es dem überwiegenden Teil von integrativ bzw. psychoonkologisch betreuten Patienten im Vergleich zu nicht entsprechend betreuten Patienten in jeder Hinsicht besser: (schwere) Depression, Ängste, Schmerzen und Fatigue nahmen zu allen Zeitpunkten signifikant ab, parallel nahmen Parameter wie Funktionsfähigkeit, emotionale Stabilität, Lebensqualität zu.[2-4]
Ähnliches galt für Patienten mit schlechter Prognose. Am häufigsten unter einer schweren Depression litten Patienten mit Lungenkrebs (13,1%), es folgten PatientInnen mit gynäkologischen Tumoren (10,9%), Brustkrebs (9,3%), Kolorektalkarzinom (7,0%) und Genitaltumoren (5,6%). 1.130 von 1.538 Patienten erhielten keine wirksame antidepressive Behandlung. Um in der palliativen Situation neben der Wirksamkeit auch die Wirtschaftlichkeit eines solchen Programms für Tumorpatienten mit schwerer Depression bemessen und gegebenenfalls anpassen zu können, hielten die Autoren weitere Forschung für notwendig.
Für den Kommentator Prof. Gary Rodin, Department of Psychosocial Oncology and Palliative Care, Princess Margaret Cancer Centre Toronto, kamen die Studien zur rechten Zeit: Das Depressionsrisiko für Krebspatienten sei im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das Zwei- bis Dreifache erhöht, neurobiologische Faktoren könnten in diesem Teufelskreis eine zusätzliche Rolle spielen.[5] Deshalb würden die Ergebnisse wichtige Hinweise dahingehend liefern, dass Empathie und Achtsamkeit in der integrativen Onkologie selbstverständlicher „geliefert“ werden könnten und dass die positiven Wirkungen messbar würden.
Die Schulung der Achtsamkeit kann Krebspatienten bei der Bewältigung belastender Erlebnisse genauso helfen wie der Umgang mit unangenehmen Körperempfindungen: Neben einer entspannenden und antidepressiven Wirkung und der Erhöhung der Selbstwirksamkeit konnten in Studien auch positive psychoneuroimmunologische Effekte nachgewiesen werden.[6] Eine kanadische Studie, in der sich 21 kurativ behandelte Krebspatienten gemeinsam mit ihren Partnern in MBSR unterweisen ließen, hat deutlich gemacht, dass auch die Angehörigen von der Methodik profitieren können.[6] Im Rahmen einer Nachuntersuchung von Brustkrebspatientinnen, denen vor 8 bis 15 Jahren ein Gruppenprogramm zur Stressbewältigung (10 Wochen á 2 Stunden) den Neustart nach der Operation erleichtern sollte, geben die Frauen heute seltener Depressionen und eine höhere Lebensqualität an.[7]
Psychosoziale Nachsorge ist unterrepräsentiert
Joachim Weis
(Integrativ arbeitende) Onkologen braucht das Land
Die Bedeutung dieses Themas steigt mit der wachsenden Zahl der Patienten, die 5 Jahre oder länger mit ihrer Erkrankung leben. Derzeit sind es laut Hochrechnungen des Robert Koch-Instituts etwa 1,7 Millionen Menschen; bei rund 2 Millionen liegt die Erstdiagnose mehr als 10 Jahre zurück.
Die Gründe dafür sind einerseits die Verbesserungen der Diagnostik und Therapien von Krebserkrankungen, andererseits ist es die demographische Entwicklung. Beide Faktoren sorgen dafür, dass künftig immer mehr Patienten mit der Diagnose Krebs wie mit einer chronischen Krankheit leben werden. Die Gesundheitssysteme wiederum werden zusätzlich vor enorme Herausforderungen hinsichtlich der Anforderungen an die spezialisierte Versorgung und die Zahl der Fachärzte und Pflegekräfte gestellt. Daran mangelt es nicht nur heute an allen Ecken und Enden, sondern auch in den nächsten Jahren.
Darauf weisen auch die 2o14 vorgestellten Studien Future Demands für Deutschland und Österreich hin. Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) und der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie (OeGHO) sind eine Bestandsaufnahme und künftige Anforderungen an die onkologische Versorgung bis 2020 erstellt worden.[8]
Vielleicht wird auch deshalb neuerdings aus dem Gesundheitsministerium der Ruf nach mehr zertifizierten Tumorzentren lauter. Dort wird per se interdisziplinär kooperiert. Dies wiederum ermöglicht optimierte Behandlungskonzepte, die von der Erstdiagnose über die Therapieplanung bis zur Therapiekontrolle reichen. Nicht alle sind integrativ ausgerichtet, dennoch ist empathische Begleitung hoffentlich inklusive.
Zum Thema
Onko-Internetportal der Deutschen Krebsgesellschaft: Entspannungstechniken für Krebspatienten
Stand: o2.März 2o15
1 Mitchell AJ et al: The Lancet Oncology. 2013; 14 (8): 721-732
DOI: 10.1016/S1470-2045(13)70244-4
2 Walker J et al: The Lancet Psychiatry 2o14. 1; 5: 343-350
DOI: 10.1016/S2215-0366(14)70313-X
3 Sharpe M et al: The Lancet 2014. 384; 9948: 1099-1108
DOI: 10.1016/S0140-6736(14)61231-9
4 Walker J et al: The Lancet Oncology 2o14. 15; 1o: 1168-1176
DOI: 10.1016/S1470-2045(14)70343-2
5 Rodin G: The Lancet 2o14. 384; 9948: 1076-1078
DOI: 10.1016/S0140-6736(14)61342-8
6 Dobos G und Kümmel S: Gemeinsam gegen Krebs. Zwei Ärzte für eine menschliche Medizin. Zabert Sandmann 2o11
7 Stagl JM et al: Cancer (online) 23. März 2015
DOI: 10.1002/cncr.29076
8 DGHO: Herausforderung demografischer Wandel. Bestandsaufnahme und künftige Anforderungen an die onkologische Versorgung. Gesundheitspolitische Schriftenreihe, Band 1