Depression oder Demenz?

Die Frage lässt sich nur differentialdiagnostisch beantworten. Alles andere gestaltet sich schwierig, denn in vorgerücktem Alter sind depressive neben demenziellen Erkrankungen die häufigsten gerontopsychiatrischen Syndrome.

Das gilt insbesondere für die mit 11 bis 30 % häufigen subsyndromalen Depressionen – jenen Formen, deren Symptome nicht alle Kriterien einer unipolaren bzw. Major Depression nach den internationalen Klassifikationssystemen erfüllen und deren Einhergehen mit körperlichen Erkrankungen zu einer vielschichtigen Symptomatik führt.

Auch die leichte kognitive Beeinträchtigung (mild cognitive impairment, MCI) bezeichnet Defizite, die über die Altersnorm hinausgehen, ohne dass bereits die Kriterien einer Demenz erfüllt wären. Die Betroffenen haben jedoch ein erhöhtes Risiko, an einer manifesten Demenz zu erkranken. Die Häufigkeit der MCI ist je nach Umfeld, Bildung und Alter sehr heterogen, in der Literatur sind bereits für die etwa 60jährigen „jungen Alten“ Schätzungen zwischen 13,5 % und 98 % zu finden [1].

Unheilige Allianzen

Unheilige Allianzen entstehen, wenn die Symptome einer Depression von denen einer Demenz überlagert werden. Gerade frühe Demenzstadien sind oft mit Depressivität vergesellschaftet, weil die Betroffenen einen stetigen Verlust ihrer kognitiven Fähigkeiten schmerzhaft wahrnehmen.

„Aber auch der umgekehrte Fall existiert. Manche Menschen sind depressiv, wirken allerdings dement, weil sie beispielsweise kaum noch reden,“ so Prof. Dr. Frank Schneider, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Aachen [2].

Die Forschungsfragen für die Altersmedizin sind folglich ebenso vielschichtig wie zahlreich. Eine im Journal of the American Medical Association (JAMA) publizierte umfangreiche Studie ist dem Ansatz nachgegangen, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen „Late-Life Depression“, leichten kognitiven Störungen und Demenzen gibt und ob darüber hinaus die Depression des Alters das jeweilige Risiko für Entwicklung und Progression erhöht [3]. Es klingt die Frage nach „Henne und Ei“ an, die nicht nur in den USA schon länger ergebnisoffen diskutiert wird.

Die Daten deuten darauf hin, dass Depressionen die Entwicklung leichter kognitiver Störungen und im weiteren Verlauf die zu einer Demenz begleiten und beidem nicht vorausgehen.

„Fatalerweise halten viele es für normal, dass ältere Menschen eine depressive Grundhaltung haben“
Frank Schneider

Von den insgesamt 2.183 multiethnischen Teilnehmern waren jene mit MCI im Vergleich zu Teilnehmern mit normalen kognitiven Funktionen um bis zu 40 % häufiger depressiv, das galt vor allem für jene mit nicht anamnestischer MCI. Demente Teilnehmer waren doppelt so häufig depressiv wie nicht demente Teilnehmer, das betraf besonders jene mit Vaskulärer (gefäßbedingter) Demenz.

Patienten, die bei Aufnahme in die Studie „nur“ depressiv gewesen waren und kognitiv sozusagen im grünen Bereich, hatten ein erhöhtes Demenzrisiko mit schwacher Tendenz zu Morbus Alzheimer. Subsyndromale Depressionen beeinflussten weder die Entwicklung einer MCI noch einer manifesten Demenz.

Die Autoren finden diese Unterschiede zwar wichtig, da die meisten Studien, die eine Depression als potenziellen Prädiktor einer Demenz untersucht haben, nicht zwischen den wesentlichen zwei Demenzformen unterscheiden: die vom Typ Alzheimer und die Vaskuläre Demenz. Daneben sind ca. 50 weitere Erkrankungen bekannt, die mit demenzähnlichen Symptomen einhergehen. Gleichzeitig aber raten sie zu vorsichtiger Interpretation: „Wir haben keine Neuroimaging-Daten erhoben und zu Beginn der Studie keinen Zusammenhang zwischen individuellen vaskulären Risiken und Depression gefunden.“

In Studien mit Bildgebung wird eben dieser Aspekt untermauert: Erkrankungen des Gefäßsystems werden im „Late-Life-Depression-Puzzle“ als möglicher Risikofaktor diskutiert, der potenziell zu Schäden in den kleinen Endarterien des Zentralen Nervensystems (ZNS) beiträgt, in der Folge die neurobiologischen Abläufe stört und gleichermaßen Stimmung wie exekutive Funktionen beeinträchtigt [4].

Besonderheiten der Depression des Alters

Diese sogenannte vaskuläre Hypothese sieht einen Zusammenhang zwischen den gefäßbedingten Risikofaktoren für eine Demenz – z. B. Diabetes, Vorhofflimmern, Bluthochdruck, Hypercholesterinämie – und einer depressiven Symptomatik [5]. Der Kreis zur Vaskulären Demenz würde sich schließen, da diese durch Mikro- und Makroangiopathien im ZNS entsteht. Eine chinesische Studie hat sogar versucht, den Effekt allein des Passivrauchens für schwere demenzielle Verläufe zu belegen [6].

Andere Autoren können diese Hypothese nicht bestätigen und begrenzen sie auf Depression nach einem Schlaganfall (post stroke depression) und auf Depression nach Myokardinfarkt. Für sie bleibt die Depression in jeder Lebensphase ein multifaktorielles Geschehen.

„Die Besonderheit der Depression im Alter liegt in der Reaktion auf schwierige Begleiterscheinungen des Alterns“, schreibt Schneider, der 2009 und 2010 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychologie, Psychosomatik und Nervenheilkunde war [2].

  • Ängste, die um den Verlust körperlicher Unversehrtheit und den der Selbstständigkeit kreisen,
  • die nachlassende physische und kognitive Leistungsfähigkeit,
  • die Zunahme organischer Beschwerden,
  • der Wegfall des sozialen Status durch Berentung,
  • der Tod geliebter Angehöriger und nicht zuletzt Einsamkeit:

Diese Faktoren können laut Schneider Depressionen nähren, wenn es keine Bewältigungsstrategien gibt: „Fatalerweise halten viele es für normal, dass ältere Menschen eine depressive Grundhaltung haben.“

Gefährlich, unterdiagnostiziert, untertherapiert

Wen wundert´s. Die Prävalenz für milde und mittelschwere Depressionen bei über 65-Jährigen ist hoch, sie wird mit etwa 10% für zu Hause lebende und etwa 40 % für Senioren in Pflegeeinrichtungen angegeben. Die einen wie die anderen leiden vor allem unter Rückzugstendenzen, Antriebslosigkeit, Unruhe oder Gereiztheit, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen im Tagesverlauf, depressiven und schlimmstenfalls suizidalen Gedanken.

Fast 40 % aller Suizide werden von über 60-Jährigen begangen. Die Zahl wiederum verdeutlicht die Problematik, Suizidalität überhaupt zu erkennen, da sie von den Symptomen einer Demenz überlagert werden kann. Nicht zuletzt deshalb gilt die Depression des Alters als gefährlich, unterdiagnostiziert und untertherapiert. Nur etwa jede zweite wird von den Hausärzten erkannt und noch seltener fachgerecht behandelt.

Und was die Häufigkeit der subsyndromalen Depressionen betrifft, so wird diskutiert, „ob es sich um einen spezifisch deutschen Befund handelt – denn aus anderen europäischen Ländern wird diesbezüglich nichts berichtet, und ob dieser auf Traumatisierungserfahrungen der heute alt gewordenen Kriegskinder zurückgeht“, sagte Dr. med. Claus Wächtler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie mit Schwerpunkt seelische Störungen im Alter, einmal anlässlich einer Fortbildung der Ärztekammer Hamburg. Wächtler meinte damit vor allem Kriegserlebnisse mit Ausbombung, Vertreibung und Vergewaltigung, die in einer Demenz schlimmstenfalls noch einmal ganz gegenwärtig werden.

 


Unterschiede zwischen Depression und Demenz [7]

 

  Depression Demenz
Beginn Rasch; schnelles Fortschreiten (Wochen, Monate) Schleichend (>6 Monate)
Orientierung Meist vollständig vorhanden Gestört
Problembewältigung Grübelzwang, häufiges Klagen Bagatellisierung, Verharmlosung
Kognitive Störungen Wenig ausgeprägt, ausgenommen Verlangsamung; Leistungsschwankungen bei Tests gleichen Schwierigkeitsgrades; häufige Schuldgefühle über vermeintliche Versäumnisse und Leistungseinbußen Zunehmend, z. B. bei Auffassung oder Aufmerksamkeit; Leistungsminderung bei Tests; für kognitive Beeinträchtigungen werden andere Personen oder die Umstände verantwortlich gemacht
Schlaf Ein- und/oder Durchschlafstörung mit Grübeln Zunehmende nächtliche Unruhe und Umtriebigkeit
Stimmung Abends Aufhellung Abends Abfall
Sexualität Eher inaktiv Eher aktiv
Soziale Aktivitäten Rückzugstendenzen Versuche, sozial aktiv zu bleiben und eigene Defizite zu verharmlosen
Hygiene Unauffällig Gestört
Antidepressive Therapie Bessert Denkstörungen Einfluss auf Denkstörungen

 


 

1 Seidl U et al: J prev med 2007(3): 286-293

2 Schneider F und Nesseler T: Depressionen im Alter: Die verkannte Volkskrankheit. Herbig Gesundheitsratgeber 2011

3 Richard E et al: JAMA Neurol 2013; 70(3): 383-389. DOI: 10.1001/jamaneurol.2013.603

4 Steffens DC et al: Stroke 2003; 33 (6): 1636-44. DOI: 10.1161/01.STR.0000018405.59799.D5

5 Sneed JR: Am J Geriatr Psychiatry. 2011 (2): 99-103

6 Chen R et al: Occup Environ Med 2013; 70(1): 63-69 bzw. Friedrich MJ: JAMA 2013; 309(7): 649 DOI:10.1001/jama.2013.503

7 Wolfersdorf M, Schüler M: Depressionen im Alter. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2005 und Bär KJ: Klinik für Psychiatrie, Universitätsklinikum Jena