Wir sehen den sozialen Frieden in Gefahr, misstrauen dem digitalen Fortschritt und fürchten uns vor Terror und Gewalt: Wir leben in einem Zeitalter der Angst, heißt es. Haben Angst vor dem Abstieg. Angst vor Einsamkeit. Angst davor, unsichtbar zu werden. Darüber hätte sich vor zehn Jahren noch intensiv diskutieren lassen. Heute nicht mehr.
Die vielen Gesichter der Angst sind neben den Depressionen in den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation WHO die weltweit häufigsten Erkrankungen der Seele. Zugenommen hat naturgemäß auch die Zahl der Betroffenen mit Posttraumatischen Belastungsstörungen.
Angst lähmt unglaublich viele Menschen, und doch vertrauen sie sich niemandem an – aus Angst, nicht ernst genug genommen zu werden; aus Angst, zuviel von sich preisgeben zu müssen; aus Angst vor Stigmatisierung. Das setzt oft genug einen Teufelskreis in Gang: Es ist bekannt, dass sich hinter vielen Ängsten ursprünglich eine nicht erkannte und nicht behandelte Depression verbirgt.
Zunächst ist Angst ein prinzipiell wichtiges, notwendiges, normales Gefühl – ein genialer Trick der Natur, der letztlich Leben ermöglicht. Kinder fürchten die Dunkelheit, Erwachsene Gewitter, im Alter wächst die Angst vor Krankheiten, Einsamkeit und Tod.
Zur Diagnose wird Angst erst, wenn sie unangemessen stark ist, zu oft und zu lange auftritt, mit Kontrollverlusten oder Zwangshandlungen verbunden ist, starkes Leid verursacht und dazu führt, dass man den Auslösern aus dem Weg geht. Unter dem Begriff Angststörungen werden heute die Agoraphobie /Panikattacken, generalisierte Angststörung, soziale Phobie und spezifische Phobien zusammengefasst. Charakterisiert sind sie dadurch, dass die Betroffenen exzessiv auf akute Gefahren und Bedrohungen reagieren; gegebenenfalls existieren diese gar nicht.
Bin ich einsam? Ja, manchmal schon. Mir fehlen nicht einfach nur Menschen, sondern das Gefühl, von jemandem beachtet zu werden
Wilfried Erdmann, Weltumsegler
Der Nährboden für soziale Phobien
Allgemein spielt sich Angst stets auf vier Ebenen ab. Involviert sind die Gefühle (Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Furcht, Resignation), die Gedanken (ich kollabiere; ich verliere die Kontrolle), der Körper (Herzrasen, Schwitzen, Atemnot, Zittern etc.), das Verhalten (Flucht, Hilfe suchen, Vermeiden, Medikamente nehmen).〈1〉
Am weitesten verbreitet sind Agoraphobien: Ängste vor Spinnen, großen Plätzen, engen Räumen, Menschenansammlungen. Bei spezifischen Phobien gibt es von Bienen über Schlangen bis Vogelfedern nichts, was vor allem Frauen nicht anhaltend und exzessiv in Panik versetzen kann.
Die soziale Phobie wird seit wenigen Jahren intensiv als zeittypisches Phänomen wahrgenommen, obwohl sie bereits seit 1980 ein eigenständiges Krankheitsbild ist: In einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Klima, in dem Belastbarkeit, hohe Flexibilität und emotionale Kompetenz wichtiger denn je für private Beziehungen wie für Arbeitsatmosphären sind, finden Ängste einen guten Nährboden, so anspruchsvollen Anforderungen nicht gerecht zu werden.
Bei einer generalisierten Angststörung steht die Sorge um alles und jeden im Vordergrund – um den Partner auf dem Weg zur Arbeit, um das Kind in der Schule, um den Verlust der finanziellen Sicherheit. Auf den ersten Blick mögen solche Befürchtungen hochneurotisch erscheinen, sie beherrschen und behindern das Leben jedoch Tage, Wochen, Monate.
Panikattacken kommen plötzlich und unerwartet und finden meist in Verbindung mit anderen Angststörungen statt, z. B. einer Agoraphobie. Häufig sind sie Folge einer Depression.
Für akute Belastungsreaktionen und eine Posttraumatische Belastungsstörung gibt es zahllose Ursachen: Krieg, Verbrechen, Vergewaltigung, Naturkatastrophen, Unfälle, Verluste (von Arbeitsplatz über Besitz bis zu einem oder mehrere Menschen durch Tod) … Ein traumatisierendes Ereignis kann unmittelbar erlebt oder beobachtet werden. Auch professionelle Ersthelfer werden häufig mit nachhaltigen Stressfaktoren konfrontiert: mit dem Anblick und Ausmaß einer Katastrophe.
Zwangsstörungen sind extrem gesteigerte Handlungen und Gedanken (Hände waschen, Herd überprüfen, Haustür absperren …), die in viele Lebensbereiche ragen, sehr zeitraubend werden, mit großem Leidensdruck und oft auch körperlichen Beschwerden verbunden sind. Sobald zwanghafte Handlungen oder Gedanken unterdrückt werden, verstärkt sich die Angst deutlich.
Kein gemeinsamer Nenner
Ängste lassen sich nicht immer auf einzelne, eindeutige Ursachen zurückführen. Es wirken verschiedene Faktoren zusammen, genetische Veranlagung und erlernte Verhaltensmuster ebenso wie das soziale Umfeld und biographische Krisen. So vielfältig die Faktoren auch sind, erst im Zusammenwirken wird die Seele letztlich verletzbar – vulnerabel – gegenüber belastenden Einflüssen, also Stress. Entsprechend werden die Zusammenhänge wissenschaftlich unter dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell zusammengefasst. Es integriert verschiedene Theorien und Aspekte über die Ursachen, die bei jeder Angststörung wichtig sind:
Das psychosoziale Modell
Konzentriert sich auf Stressoren und Konflikte. Demnach sind Ängste auf situative Stressfaktoren (z. B. schmerzliche Trennungen oder Verluste, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit) und/oder psychische Konflikte (z. B. zermürbende Partnerkrisen) zurückzuführen. Früher galt die Auffassung, dass mit dem Grad des Stresses die Schwere der Angst korreliert. Ziel der Behandlung war es, die Belastungen auszuschalten. Dann hat sich gezeigt, dass nicht alle Angststörungen in das Schema passen. Bei der Entwicklung einer generalisierten Angst beispielsweise sind neben Dauerstress ein geringes Selbstwertgefühl sowie ein suboptimaler Gesundheitszustand beteiligt.
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Das lerntheoretische Modell
Betont wird die klassische Konditionierung: Bislang neutrale Situationen oder Objekte lösen plötzlich Angstreaktionen aus. Andere Lerntheorien betrachten Angststörungen im Zusammenhang mit der gesamten Persönlichkeitsentwicklung. In der frühen Lebensführung kann – muss aber nicht – die Erziehung die Entwicklung von Angst begünstigen. Unter anderem können
- eine überbehütete Kindheit;
- traumatische Erfahrungen (körperliche, psychische Misshandlungen);
- eine an liebevoller Zuwendung, Wertschätzung und Unterstützung fehlende Erziehung;
- elterliche Zuwendung, die an besondere Leistung gebunden ist;
- ein Erziehungsstil, der selbstsicheres und unabhängiges Verhalten wenig fördert;
- Lerndefizite im Sozialverhalten
früh wichtige Hirnareale verändern. Die so entstehenden biologischen Narben prägen die Persönlichkeit. Experten sprechen von erhöhter Angstbereitschaft gegenüber sozialen Situationen, die als bedrohlich erlebt werden.
Die Anfälligkeit allein führt aber nicht zwingend in die Erkrankung. Auch scheint es, als hätten die Betroffenen kein ausgeprägtes Gefühl der Kohärenz. Gemeint ist damit eine widerstandsfähige Haltung zum Leben, die mit der Gewissheit einhergeht, tägliche Belastungen und Krisen bewältigen zu können.
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Die Rolle der Gene
Die Frage, warum nicht alle Menschen unter ähnlichen Bedingungen krank werden vor Angst, versuchen unter anderem Genetiker und Neurowissenschaftler zu klären, indem sie zunächst postulieren: Es muss zusätzlich eine genetische bzw. biologische Veranlagung vorliegen.
Genetische Faktoren werden für psychische Erkrankungen bisher nicht vollständig verstanden. Gene können einerseits ein Risikofaktor für eine psychische Störung sein, andererseits aber auch eine Schutzwirkung haben. Insgesamt sollte ihre Bedeutung nicht überschätzt werden, sie lösen per se keine Krankheiten aus, sie disponieren lediglich dafür. Das heißt, es gibt ein erhöhtes Risiko, die Krankheit muss nicht automatisch ausbrechen. Maßgeblich verantwortlich sind andere Faktoren, oft Umwelteinflüsse und der Lebensstil.
Das biologische Modell
„Der Schlüssel für ein besseres Verständnis psychischer Störungen heißt Hirnforschung,“ hat Prof. Dr. Wolfgang Gaebel, Ärztlicher Direktor der Rheinischen Kliniken für Psychiatrie in Düsseldorf, zu Beginn des Jahres 2000 festgestellt. Zu jenem Zeitpunkt hielten die Psychiater ihr Fach für das interessanteste der gesamten Medizin, da die zahlreichen neuen Erkenntnisse der Hirnforschung über die Funktionsunterschiede zwischen Gesunden und Kranken in den zehn Jahren zuvor die Psychiatrie revolutioniert hatten – im Verständnis der Ursachen über die Diagnostik bis zu den Therapien. Derzeit ist der Lack ein bisschen ab, aber das ist ein anderes Thema.
Nach wie vor gilt: Welche Krankheitsform sich die leidende Seele sucht, hängt von der Persönlichkeitsstruktur ab. In fast allen Fällen geht dies mit Veränderungen in bestimmten Hirnarealen einher, genauer: mit einer Störung im Stoffwechsel der chemischen Botenstoffe (Neurotransmitter). Diese gewährleisten die einwandfreie Kommunikation zwischen den rund 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns und steuern verschiedene körperliche und geistige Prozesse.
Man weiß auch: Angst ist Stress – wie jeder Reiz, der bewusst oder unbewusst auf uns einwirkt. Und Stress verändert Hirnfunktionen. Die komplexen Prozesse, die Angstgefühle erzeugen, laufen mit unfassbarer Geschwindigkeit und vielfach unbewusst ab. Welche Hirnstrukturen und Neurotransmitter daran beteiligt sind, war und ist Gegenstand zahlreicher Forschungen.
Klar ist: Bei Angstpatienten sind bestimmte Hirnregionen und die zugehörigen Neurotransmitter aktiv, die unmittelbar Denken und Fühlen beeinflussen. Dazu gehören die Mandelkerne (Amygdalae), eine stammesgeschichtlich sehr alte, paarig angelegte Funktionseinheit im Großhirn, die eng mit verschiedenen Strukturen des Gehirns verschaltet ist. Ob Furcht oder Fluchtwünsche – bei jeder Art von Emotionen spielt die Amygdala eine zentrale Rolle.
Ist die erst mal aktiviert, läuft das typische Kampf-Flucht-Schema ab, das Menschen und höher entwickelte Tiere seit Urzeiten durchs Leben begleitet und dieses oft genug rettet. Ein Faktor, der bei der körperlichen Wahrnehmung von Stress eine Rolle spielt, ist das vegetative Nervensystem. Es ist bei Angstpatienten leichter erregbar als bei Gesunden. Das Vegetativum stellt die Verbindung zu den inneren Organen und Drüsen her, es hat mit Körperprozessen zu tun, die selbstständig ohne das Bewusstsein (unwillkürlich) ablaufen. Beispiele sind Funktionen wie Atmung, Verdauung, Blutdruck, Schwitzen, Weinen.
Unklar ist generell noch, was Henne und Ei ist, inwieweit also Neurotransmitter-Störungen zum eigentlichen Ausbruch einer psychischen Erkrankung führen oder ob sie selbst lediglich Bestandteil des Prozesses sind.
Besonnenheit impliziert ein Maß zu finden mit den Gefühlen von Angst, aber auch von Hoffnung, ein Maß zu finden mit den Gefühlen von Sehnsucht,
aber auch von Besorgnis
Giovanni Maio
Verstanden werden, Harmonien herstellen
So oder so: Ängste, die das Leben dominieren, gehören immer in die Obhut von ebenso qualifizierten wie empathischen und engagierten Fachleuten. Außerdem verschwinden Ängste in aller Regel nicht von allein. Abhängig von den Ursachen, Beschwerden, Schweregraden und Patientenwünschen stehen differenzierte Ansätze zur Verfügung, die sich gegebenenfalls kombinieren lassen. Die neue S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen ist von April 2014; Orientierung für die Behandlung von Zwangsstörungen bietet eine neu entwickelte S3-Leitlinie von März 2o15.
Das Spektrum ist groß, begleitend zu Verhaltenstherapien, medikamentösen Maßnahmen, Hypno- und Traumatherapien oder Körpertherapien einschließlich Sport haben sich die Techniken der Stressbewältigung durch Achtsamkeit (Mindfulness Based Stress Reduction, MBSR) nach Kabat-Zinn als sinnvoll und hilfreich erwiesen.
Das Wichtigste aber ist Zeit, Trost, Zuversicht – ist das Prinzip Hoffnung, ist positive Motivation. Es gilt, ein verständliches Modell seiner Krankheit zu erhalten, zum Experten seiner selbst zu werden und mehrdimensionale Wege zur Genesung zu eröffnen. Angstfreiheit lässt sich nicht verordnen, es lässt sich aber eine Harmonie herstellen zwischen dem was ist und dem, was idealerweise sein könnte. Der Arzt, Philosoph und Medizinethiker Prof. Dr. Giovanni Maio, Freiburg, nennt dies den „zentralen Wesenszug der Besonnenheit“, die eine Voraussetzung für das Selbstsein sei und die einen davon abhält, maßlos zu sein – auch mit den eigenen Affekten.〈2〉
Besonnenheit setze Realitätssinn und Klugheit voraus, eine innere Ruhe und Handelnwollen; Eigenschaften, die gleichsam nützlich sind für das therapeutische Konzept des Befähigens. Werden auch noch Angehörige aktiv eingebunden, umso besser: Im Rahmen der Psychoedukation können Patienten und Angehörige ihre jeweilige Lebensqualität verbessern auf dem Weg, zumindest angstfreier zu leben. In diesem Perspektivwechsel hin zur Stärkung der Standfestigkeit und Autonomie liegt zudem die Chance, sich selbst zu finden und, mehr noch, sich selbst annehmen zu können.
„Es ist unsere innere Einstellung, die uns sagt, dass das vermeintlich Imperfekte im Menschen, seine Leistungsgrenzen, seine Verwundbarkeit einen tieferen Sinn haben“, schreibt Maio. Gesund sei nicht, wer keine Beeinträchtigung hat, sondern wer einen kreativen Umgang mit seiner eigenen Begrenztheit und seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit gefunden hat.
Zum Thema
IM FOKUS: DAS KRANKE GEHIRN
9 IDEEN FÜR EINE BESSERE NEUROWISSENSCHAFT
1 Berger, Mathias et al: Angststörungen in Psychiatrie und Psychotherapie. Urban u Fischer 2ooo
2 Maio, Giovanni: Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit. Trias Verlag 2o14