Kampf oder Flucht

Niemand kann sich ihm entziehen, dem Adrenalin-Flash: Der Blutdruck steigt, das Herz rast, tief durchatmen, eine mehr oder minder beängstigende Energie entwickeln und los geht´s – gegen den Kollegen, den Lehrer der Kinder, den Partner oder den Deppen vor oder hinter Ihnen im Straßenverkehr.

Jeder Reiz, der bewusst oder unbewusst auf uns wirkt, ist Stress. Stress hat viele Gesichter und zahllose Gründe, auch wenn wir nicht immer wissen, was genau mit dem Begriff eigentlich gemeint ist – trotz der inflationären Verwendung.

Entwicklungsgeschichtlich gesehen hat sich der Körper auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Denn Stress ist ein natürliches und biologisch festgelegtes Gefühl – ein Relikt aus prähistorischen Zeiten, in denen der Homo erectus in freier Natur lebte und jede falsche Bewegung tödlich sein konnte. Biologisch hat sich nichts geändert: Unsere heutige Stress-Software ist die gleiche wie die unserer Vorfahren. Stress tritt meist in Situationen auf, die als bedrohlich, ungewiss und unkontrollierbar eingeschätzt werden. Somit ist Stress ein durchaus hilfreicher Schutzreflex:

ein Alarmsignal, das den Körper warnt und die Aufmerksamkeit erhöht,
eine automatische, also unbewusste Alarmreaktion, die den Körper auf blitzschnelles Handeln vorbereitet.

Die Reaktionen sind immer auf drei Ebenen möglich:

auf der Handlungsebene: Sie wenden sich ab, flüchten, gehen kritischen Situationen aus dem Weg oder kämpfen,
auf der gedanklich-emotionalen Ebene: Sie fürchten z. B. die Kontrolle zu verlieren oder zu sterben,
auf der körperlichen Ebene: Sie schwitzen oder frieren, erleben z. B. Schwindelgefühle, Muskelverkrampfungen, Benommenheit, Flimmern vor den Augen, Taubheit oder Kribbeln in verschiedenen Körperteilen, Übelkeit, Herzrasen, Harn-, Stuhldrang, Atemnot bis hin zu Erstickungsgefühlen.

Die drei Anteile treten nicht immer gleichzeitig und gleich stark auf. Dennoch spielen sie bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Stresssymptomatik eine Rolle.

Wann wird´s heikel?

Akuter Stress ist meist nicht gefährlich und nichts weiter als eine Anpassung des Organismus auf Belastung, obwohl er als unangenehm erlebt wird. Heikel wird´s, wenn zwischen den Stressphasen keine Zeit zur Erholung bleibt und die permanenten Anforderungen sich zur chronischen Überforderung entwickeln. Dann lässt sich die Frage „Ist Stress ungesund?“ eindeutig mit Ja beantworten: 90% aller Herzinfarkte sind Lebensstil-bedingt, nur 10% bleiben für die Genetik.〈1〉 Und: Innerhalb einer Stunde nach einer akuten Stresssituation steigt das Infarktrisiko auf das 17-fache.

Die langfristigen Folgen von Stress auf Körper und Seele sind vielfältig, sie können über allgemeine Erschöpfung und Müdigkeit hinaus körperliche Erkrankungen, Schmerzsyndrome und Autoimmunerkrankungen triggern. Beispiele sind:

Allergien, Ängste, Alkoholismus, Bluthochdruck, chronische Magen-Darmerkrankungen (z. B. Gastritis, Reizdarm, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Zwölffingerdarmgeschwür), Depression, Drogenkonsum (incl. Zigaretten), Erschöpfung, Essstörungen, Fibromyalgie, Hauterkrankungen, HNO-Erkrankungen (Hörsturz, Tinnitus, Schwindel), ständig wiederkehrende Erkältungen, Kopfschmerzen/Migräne, rheumatische Erkrankungen, Schlafstörungen, Überfunktion der Schilddrüse, eine Fülle von gynäkologischen und urologischen Problemen.

Nahezu alle Beispiele zählen auch zum Komplex der psychosomatischen Krankheitsbilder.

Andererseits haben Studien gezeigt, dass durch bewusste Entspannung zum Beispiel der Blutdruck sinkt, Schlafstörungen gelindert werden und auch die Anfälligkeit für Stress reduziert wird. Genauso wie unser Herz bei der Vorstellung einer (furcht)erregenden Situation heftig zu pochen beginnt, kann die Frequenz durch bewusste Beruhigung verringert werden. Das Erlernen von Entspannungstechniken ist ein wichtiger Teil eines gesundheitsbewussten, präventiven Lebensstils.

Stress ist Stress

Das Problem aber ist: Viele nehmen Dauerstress nicht ernst, weil sie diesen auch positiv wahrnehmen. Nach klassischer Definition wird Stress nicht nur negativ erlebt. Danach reagiert der negative „Dis“-Stresstyp mit einer blockierenden Erregung, der positive „Eu“-Stresstyp  mit besonderer Konzentration. Hinzu kommen geschlechtsspezifische Unterschiede des Stresserlebens und -verhaltens.

Diese Unterscheidungen spielen in der wissenschaftlichen Forschung jedoch keine Rolle mehr, dort wird nur noch zwischen akutem und chronischem Stress unterschieden. Begründung: Positiver Stress wirkt im Körper genauso wie negativer Stress. Soll heißen: Stress ist Stress.

In Stresssituationen startet das Gehirn eine Kettenreaktion, die das Herz in Alarmbereitschaft bringt, Angst und Furcht machen sich breit. Der Körper aktiviert alles, um mit der Situation fertig zu werden – völlig unabhängig davon, ob es sich um den Angriff eines Feindes oder eine Prüfung handelt. Der populärste Stress ist nach Ansicht von Stressforschern der Arbeitsstress. Am nachhaltigsten wirken die Pflege eines Angehörigen und der Verlust eines geliebten Menschen durch Tod.

Cortisol & Co.

Die komplexen stresserzeugenden Prozesse laufen im Körper mit enormer Geschwindigkeit und daher vielfach unbewusst ab. Klar ist, dass sich Stress über mehrere Wege im Gehirn auswirkt. Das Gehirn ist das zentrale Organ des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens. Und damit Sitz all jener Fähigkeiten, die das Menschsein ausmachen.

Welche Hirnstrukturen und Signalüberträger bzw. Nervenbotenstoffe zwischen den Nervenzellen beteiligt sind, ist Gegenstand zahlreicher Forschungen. Bisher kann gezeigt werden, dass zu den Netzwerken, die für eine normale Stressreaktion verantwortlich sind, die Amygdala (Mandelkern) gehört – ein paarig angelegtes Kerngebiet des Gehirns im vorderen Abschnitt des rechten und linken Temporallappens. Die Amydala (Plural: Amygdalae) ist Teil des Limbischen Systems und zentral bei der Entstehung und beim Ausdruck von Emotionen beteiligt, besonders von Furcht und Angst.

In allen Stresssituationen sind in erster Linie jene Nervenzellen bzw. Neuronen aktiv, die die Stresshormone Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin als Botenstoffe benutzen.

Die Neuronen, die Noradrenalin als Botenstoffe benutzen, stehen zu mindestens einem Drittel aller Nervenzellen des Gehirns in Kontakt. Je aktiver diese Zellen sind, umso mehr Noradrenalin produzieren sie. Parallel dazu wird der Körper mit Cortisol geflutet, einem im Nebennierenmark gebildeten Stresshormon, das zum Beispiel bei einer Infektion, einem akuten seelischen Trauma oder bei chronischem Stress freigesetzt wird.

Eines der ersten Hormone, das aktiv wird, hat den kaum aussprechbaren Namen Corticotropin-freisetzendes Hormon (Corticotropin-releasing Hormon, CRH). Es wird im Gehirn im Limbischen System aktiviert – jenen Hirnstrukturen, die unsere Gefühle, Instinkte und Gedächtnisfunktionen steuern. CRH wiederum stimuliert die Cortisolproduktion.

Bei kurzzeitigem Stress sind Adrenalin und Noradrenalin beteiligt, bei chronischem Stress mit Angstsymptomen ändern sich die psychosomatischen Reaktionsmuster und andere Stresshormone wie eben Cortisol werden ausgeschüttet.

Erweiterte Amygdala

Forscher am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie haben inzwischen auch Nervenzellen in einer Hirnregion lokalisiert, die für die Regulierung der Furcht- und Angstreaktionen verantwortlich sind: Der „erweiterte Amygdalakomplex“ oder „erweiterte Mandelkernkomplex“ gilt als das Gebiet, das die meisten Verknüpfungen mit anderen Gebieten aufweist.〈2〉Es ist ebenfalls eng mit der affektiven Bewertung eintreffender Informationen („Gefahr!“) und der entsprechenden Verhaltensreaktion verknüpft.

Hier fand das Team um Prof. Alon Chen und Dr. Marloes Henckens Nervenzellen, die Angstreaktionen auf Stress regulieren. Aktive Neuronen und niedrige Cortisolwerte reduzieren Ängstlichkeit, inaktive Neuronen und erhöhte Cortisolwerte produzieren Ängstlichkeit. Im Mausmodell dauerte es im ersten Fall weniger lang, bis sich nach einem stressauslösenden Ereignis die Werte normalisierten. Dieser Mechanismus spielt auch eine Rolle bei der Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

 


 

1 Yusuf S et al: The INTERHEART Study. The Lancet 2oo4. 364; 9438: 937-952. Doi: 10.1016/S0140-6736(04)17018-9

2 Henckens MJAG et al: Molecular Psychiatry 2o16.
Doi: 10.1038/mp.2016.133